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Neuer Akzent in
der Orgellandschaft

Schlosskirche Friedrichshafen: Eine der innovativsten
Orgelrenovierungen in der Landeskirche

Von Sönke Wittnebel
veröffentlicht in „Württembergische Blätter für Kirchenmusik“, Heft 1/2023


Am 2. Oktober 2022 wurde in der Schlosskirche Friedrichshafen die renovierte und erweiterte große Orgel eingeweiht. Professor Stefan Engels (Dallas) spielte das völlig neu erstandene Instrument sowohl beim Einweihungskonzert als auch beim von Codekan Reimar Krauß geleiteten Festgottesdienst zur Orgel-Einweihung. Auch die Kantorei an der Schlosskirche unter der Leitung von KMD Sönke Wittnebel gestaltete diesen mit. Prälatin Gabriele Wulz predigte eindrucksvoll über den 150. Psalm. Einer ihrer für den Verfasser bemerkenswertesten Sätze war: „… dass wir heute spüren, dass wir im Lob Gottes als Gemeinde unsere Aufgabe, unseren Auftrag und den Sinn unseres Lebens erfüllen  das können wir nicht machen. Das muss sich ereignen. In jedem, in jeder einzelnen.“

Auch Thomas Gaida, Orgelbaumeister Simon Heubach und viele Mitarbeiter der Orgelbaufirma waren erschienen. Neben Codekan im Ruhestand Gottfried Claß, in dessen Amtszeit die Renovierungsarbeiten fielen, war eine zahlreiche Zuhörerschaft gekommen, darunter viele Menschen, die im überwältigenden und berührenden Maße für die Orgel gespendet haben.

Neben sehr vielen Benefizveranstaltungen hatten auch ungezählte weitere Initiativen dazu beigetragen, dass das Orgelwerk gänzlich aus Spenden bezahlt werden kann. Diese Aktivitäten hatten zugleich aber auch viele positive Auswirkungen auf das kirchengemeindliche Leben.

Doch der Reihe nach: Da Putz in die Orgel gefallen war, musste – bevor man mit den eigentlichen Orgelbaumaßnahmen anfangen konnte – zuvor die westliche Rückwand durch das Amt für Vermögen und Bau als Auftraggeber saniert werden. Dem ging der Ausbau der Register durch die Orgelbauer voraus.

Die Schlosskirche war nach den verheerenden Auswirkungen der Fliegerangriffe im 2. Weltkrieg wiederhergestellt worden. Seitdem hatten keine Reinigungsarbeiten am sehr üppig verbauten Putz und auf den großen Oberflächen der Kapitelle stattgefunden. Die Kirchengemeinde hatte das große Glück, dass alle Wände und sämtlich Stuckteile durch das Amt gereinigt wurden!

Das Vorgängerinstrument, 1970 von der Firma Weigle gebaut und von Orgelbau Mühleisen 1988 klanglich erweitert, hatte eine elektrische Traktur. Es wurde entschieden, eine solche auch in Zukunft zu nutzen. Dadurch eröffnen sich zahlreiche Türen faszinierender Möglichkeiten.

Ein Blick von Südosten auf die Westempore mit dem ausgebauten Innenleben der Orgel
Ein Blick von Südosten auf die Westempore mit dem ausgebauten Innenleben der Orgel
Aufwändige Reinigungsarbeiten am Stuck, den Kapitellen und Wänden
Auf beiden Emporeseiten wurden in Kabelkanälen mehrere Kabelstränge von West nach Ost verlegt: aufwändig um viele Ecken geführt

Der Nachbau einer historischen Orgel, zum Beispiel einer an sich hochgeschätzten Holzhey- oder Gabler-Orgel war dadurch ausgeschlossen. Das ist auch deshalb gut, weil man auf diese Weise nicht eine mehr oder weniger gelungene Kopie von etwas bereits Dagewesenem anstrebte, sondern einen ganz neuen Akzent in der hiesigen Orgellandschaft setzen konnte.

Flûte triangulaire: seltener dreieckiger Querschnitt

Trotzdem gilt der Ansatz, im Orgelbau Bewährtes zu nutzen, dazu der Grundsatz, dass das Alte keineswegs schlechter sein muss als das Neue. Im Gegenteil: Die früheren Register wurden wiederverwendet. Die seinerzeit noch geschätzte Klangästhetik allerdings gehört nicht dazu. Die Register erfuhren hingegen in der Werkstatt Gaidas eine nachhaltige und zum Teil verblüffende Klangveredlung in Richtung Kantabilität und Tragfähigkeit. Nicht nur, aber z. B. auch die große Zahl an Grundstimmenfarben ermöglicht seitdem tatsächlich sehr viele neue Nuancen. Die hohen Frequenzen stehen jetzt auf satten „Bass-Polstern“.

Die meisten neuen Register wurden auf Kegelladen mit Einzeltonsteuerung gebaut. Zahlreiche neu hinzugekommene Register stammen zum Beispiel aus englischen Orgeln. Sie sind keinesfalls „zweite Wahl“, sondern wertvolle Unikate mit eher romantischem Klangideal und vermögen in ihrem zweiten „Klang­Leben“ die Zuhörenden wirklich zu berühren. Nebenbei war die umfangreiche Disposition wegen des relativ günstigen Einkaufes leichter finanzierbar. Welch ein Segen, dass diese Schätze nicht auf einem Abfallcontainer gelandet sind!

Die Tuba wurde eigens in den Niederlanden gefertigt: Die Schallbecher sind im Diskant (vorne) aus Metall, im Bassbereich (an der Rückwand) aus Holz gefertigt.
Blick gen Osten vom sich im Westen befindlichen Kronwerk der Hauptorgel mit dem markanten Tonnengewölbe. Zu erkennen sind einige der nördlich bzw. südlich gelegenen lichtdurchfluteten Nischen. Außerdem erkennt man den ebenerdig auf der Südseite stehenden vorläufigen Montage-Spieltisch.

Eine der großen Herausforderungen bestand für die Orgelbauer darin, die unterschiedlichen baulichen und ästhetischen Herkünfte und Gegebenheiten zu einem neuen klanglichen Gesamtorganismus zusammenzuführen. Nach Ansicht des Verfassers ist dies weitgehendst gelungen und zeigt hörbar die beachtliche, ja außergewöhnliche Intonations-Kompetenz der saarländischen Orgelbaufirma. Jede und Jeder ist eingeladen, sich ihr/sein eigenes Bild davon zu machen.

Viele tragfähige Register, aber auch zahlreiche akustische 16′- und 32′-Register, die das Phänomen der Kombinationstöne nutzen, bieten faszinierende Basis-Klänge für weichere bzw. kraftvollere Registrierungen. Der Schlosskirchenraum scheint die Bassfrequenzen aber nicht zu verstärken. Ob die Grenze an Sonorität erreicht ist?

Ein Register – die Tuba – wurde eigens in den Niederlanden angefertigt. Sie ist, wie viele andere Register auch, ein Auxiliar-Register. Diese Art von Register hat viel mehr Pfeifen als vorhandene Tasten.

Je nachdem, welche Oktavlage/Fußzahl – bei der Tuba von 32′ bis 1′ (!) – gewählt wird, ändert sich die klangliche Wirkung. Die vorhandenen einzelnen Abschnitte können auch beliebig miteinander gemischt und kombiniert werden. Das jeweilige Auxiliar-Register – oder einzelne Abschnitte (!) – können auf jedem Manual und dem Pedal erklingen. Dass auch die meisten Nicht-Auxiliar-Register auf jedem Manual und dem Pedal gespielt werden können, schafft ein enorm weites Spektrum an Differenzierungsmöglichkeiten.

Eine wirklich große Bereicherung sind zudem die Super- und Suboktavkoppeln, durch die ein Register vielfach ausgenutzt werden kann. Diese faszinierende Option, ohne eine Pfeife mehr zu bauen, erweitert das Klangspektrum erheblich. Die Register des gesamten Manuales klingen dann entweder gravitätischer oder heller. Im Unterschied zu herkömmlichen Super- und Suboktav­koppeln ist hier auch ihr gemeinsamer Einsatz ohne die zugrunde­liegende 8′-Lage möglich, sodass man auch auf diese Weise einen abermals neuen Spaltklang, zum Beispiel 16′ + 4′ erzeugen kann.

Freilich geben die herkömmlichen Register – im Gegensatz zu den Auxiliar-Registern – in der untersten, beziehungsweise obersten Oktave nicht durchgehend diese Klangmodifikation, da ja ihre Pfeifenanzahl begrenzter ist. Die weitgehende freie Verfügbarkeit der meisten Register auf allen Manualen bietet hier aber zum Beispiel auch die Möglichkeit, diese Register auf einem anderen Manual – auch gleichzeitig in verschiedenen Oktavlagen! – mit einem der vielen anderen fein differenzierten Klänge zu „unter­füttern“. Das Spiel der linken Hand auf einem anderen Manual lässt die Mittelstimmen z. B. in polyphonen Stimmengeflechten so deutlicher hervortreten. Eine sehr hilfreiche Möglichkeit!

Die elektrische Traktur ermöglicht, die 1702 fertig­ gestellte Schloss­kirche als Klang-Raum ganz neu zu erschließen. Als Vorbild kann die barocke Mehrchörigkeit gesehen werden.

Eine geradezu ideale Fügung ist, dass die drei neuen Teilwerke in Räumen und Nischen stehen, die durch die Öffentlichkeit nicht erreichbar, aber klanglich mit dem Hauptraum verbunden sind. Sie sind um den im Osten der Kirche gelegenen Chorraum entstanden. Da die barocke Schlosskirche unter höchstem Denkmalschutz steht, durften in ihr keine architektonischen Akzente gesetzt werden. So fallen „Die Neuen“ im Raum optisch kaum – bis gar nicht – auf.

Sie befinden sich relativ weit weg von der im Westen gelegenen Orgelempore am anderen Ende der Schlosskirche. So ist es nun möglich, sowohl dialogisch geprägte Musik durch den Raum zu erleben, als auch von einem Klangraum umfangen zu werden.

Viele neue unglaublich wertvolle Möglichkeiten und Klang-Perspektiven ergeben sich für die Spieler*innen durch die Aufstellung von zwei Spieltischen, die beide fahrbar sind.

Der für alle Kirchenbesucher sichtbare neu hinzugekommene untere Spieltisch ermöglicht Nähe und auch Kontakt mit der Gemeinde. Sie kann erkennen, wann zum Beispiel das Orgelvorspiel beginnt und wann nach der Intonation das Gemeindelied anhebt. Wie wohltuend, dass man zusammen atmen kann! Besonders hilfreich und erleichternd ist auch der neu gewonnene Kontakt mit den Liturginnen und Liturgen und weiteren Rollenträgern in den Gottesdiensten oder anderen Veranstaltungen.

Als Holz für das neue Spieltischgehäuse wurde Nussbaum gewählt, da sowohl das Chorgestühl, der Flügel als auch die von Orgelbau Mühleisen zusammen mit KMD Wittnebel eigens für die Schloss­kirche entwickelte Truhenorgel aus Nussbaumholz gebaut worden sind.

Der umgebaute Spieltisch auf der Westempore: Vom Vorgängerspieltisch sind lediglich noch die Wandungen, das Pedal und die Orgelbank erhalten. Beiden Spieltischen gemeinsam ist die direkte Erreichbarkeit jedes Klanges bzw. der Funktionen mit je einem eigenen Taster: viele Taster - aber "absturzsichere" Steuerung
Der neue Spieltisch hat vier Manuale: Gut zu erkennen sind die 88 Tasten des 1. Manuales. Auf ihm sind zum Teil schon jetzt analoge Klangerweiterungen installiert. So manches für Klavier gedachte Choralvorspiel lässt sich so realisieren.

Von diesem ebenerdig aufgestellten Spieltisch können Chöre, Orchester, Vokal- und Instrumental-Solisten oder Ensembles, die beim kleinen Altar positioniert sind, aufgrund der Nähe gut mit den Organist*innen zusammenwirken. Auch Organist*innen und Dirigent*innen können sich sehen. So werden zum Beispiel auch großbesetzte Orgel-Orchesterkonzerte möglich.

Beim Spiel können die westlichen und die östlichen Orgel-„Sphären“ gemeinsam genutzt werden, aber zum Beispiel auch nur die Register, die im Osten erklingen. Dadurch, dass die Pfeifen dann hinter den Musizierenden stehen, übertönt der vielfarbige Orgel­klang die im Vordergrund stehenden Musiker*innen – auch bei kleinen Besetzungen – nicht.

Dazu dient auch, dass das auf der Nordempore stehende Angli­kanische Schwellwerk ein Gehäuse mit zehn Zentimeter starken Wänden und Jalousien hat und so eine entsprechend große dynamische Bandbreite bietet. In einem bevorstehenden neuen Bauabschnitt soll auch das Schwellwerk Süd, das ebenerdig an den Chorraum in südliche Richtung angrenzend platziert steht, ein solches Gehäuse erhalten.

Das Positiv Nord steht als drittes Werk oberhalb vom Anglika­nischen Schwellwerk.

Der gänzlich neu aufgebaute obere Spieltisch auf der Westempore kann zum Spiel, aber auch gut zum Üben benutzt werden. Das ist unter anderem deshalb sehr erleichternd, weil der Abstand zu den vielen Touristen und Kirchenbesuchern deutlich größer ist, die im Sommer die Schlosskirche „fluten“.

Alle weniger Geübten können dort auch nur die oben stehenden Register nutzen und haben die Herausforderung der Schall­ver­zögerung nicht. Leicht sind diese Register zu erkennen und zu unterscheiden von denen im Osten, denn sie sind bei beiden Spieltischen auf den linken Spieltisch-Tableaus angeordnet.

Die Schallverzögerung stellt eine echte Herausforderung für die Organist*innen dar. Je nachdem, ob man am Spieltisch sitzt, der auf der westlichen Orgelempore steht, oder am ebenerdig aufge­stellten unteren Spieltisch, sind die Verzögerungen unterschiedlich: Auf der Westempore befindet man sich in der Nähe der Pfeifen, die auf der Empore stehen, aber relativ weit weg von den im Osten stehenden Werken. Unten sitzend hingegen ist man von allen Teilwerken ähnlich weit entfernt. Je schneller die Tempi sind, umso „kniffliger“ ist die Aufgabe.

Die elektrischen Spiel- und Registertrakturen werden an beiden Spieltischen durch Elektronik gesteuert. Die Wiederverwendung des alten Spieltischgehäuses des oberen Spieltisches stellt mit seinen nur drei Manualen zwar eine Begrenzung gegenüber dem neuen Spieltisch dar. Allerdings konnte mit den kleineren Tastern im Vergleich zu den alten Schaltern eine verblüffend große Palette an neuen Spielmöglichkeiten eingerichtet werden.

Interessant sind die zahlreichen Spielhilfen, die ungewohnte Klänge und Effekte möglich machen:

  • Zu den besonderen Klangmöglichkeiten gibt es schon jetzt Transpositionen des gesamten Orgelwerkes, einzelner Werke oder auch nur einzelner (!) Register. So ist es möglich, dass man sich bei Bedarf sein eigenes Aliquotregister erstellen kann. Eine „delikate Raffinesse“ ist das Sostenuto. Dieses nutzt ebenfalls die analogen Pfeifen. Dabei spielt man zum Beispiel auf einem Manual einen Akkord, der dann so lange selbstständig weiterklingt, bis ein neuer Akkord gespielt wird. Auf den anderen Manualen kann simultan improvisiert werden.
  • Bei Verwendung der Spielhilfe Melodie erklingt nur die oberste Stimme der jeweilig gespielten Akkorde des Manuales. Registriert man Pfeifen eines oder mehrerer anderer Register eines anderen Manuales dazu, erklingt die oberste Stimme entsprechend hervorgehoben.
  • Die Spielhilfe Tacet erlaubt es, auch komplexe Registrierungen vorzubereiten, sie aber noch stumm zu schalten, um zum Beispiel das stumme Durchspielen einer Passage zu ermöglichen.
  • Mit Hilfe der Schaltung Pedal-Divide ist es möglich, im Diskant- und im Bassbereich des Pedals zwei verschiedene Registrierungen zu nutzen, um beim Doppelpedalspiel eine Melodie hervorheben zu können. Der Splitpunkt ist dabei frei wählbar.
  • Richtig verblüffend ist die Wirkung des Pizzicato. Die entsprechend geschalteten Register erklingen nur einen Moment. Wenn man einmal diese Möglichkeiten kennengelernt hat, erkennt man, dass es keineswegs eine bloße Spielerei ist!

Die sehr große Zahl von Speicherplätzen auf SD-Karten ist eine der wichtigen Voraussetzungen, auch größere oratorische Formen mit den nötigen Klangvariationen auf der Orgel gestalten zu können. Ob das in der Zukunft nicht sogar nötig – ja eine Voraussetzung für Chorarbeit mit größeren Formen – sein wird, wenn es womöglich nicht mehr so viele fähige Berufs- und leistungsfähige Laienmusiker geben sollte?

Tore in die Zukunft stehen auch offen für eine MIDI­Erweiterung. Auf allen Manualen und dem Pedal können potenziell elektronisch erzeugte Klänge eine fast unendlich erscheinende Klangerweiterung mit sich bringen. Diese faszinierende Vorstellung von gesampelten Sounds bis hin zu Harnmond-Orgel- oder experimentellen Klängen ist derzeit aber „Zukunftsmusik“

„Zukunftsmusik“ sind neben dem bereits erwähnten weiteren Schwellwerksgehäuse und der MIDI-Aktivierung zum Beispiel noch fehlende Register. Die Laden und auch die Spieltische wurden bereits „auf Zuwachs“ angelegt. Auch Tremulanten, weitere Spielhilfen und anderes mehr können noch Einzug halten.

Die Kirchenmusikerstelle wird 2023/24 neu zu besetzen sein. Hier könnten sich für den Nachfolger/ die Nachfolgerin sehr interessante und spannende Aufgaben ergeben. Diese Zukunft steht der Nachfolgerin beziehungsweise dem Nachfolger in der wahrlich wunderschönen Schlosskirche in unmittelbarer Nähe zum Bodensee und einer – wie man erkennen kann – der Kirchenmusik gegenüber aufgeschlossenen Gemeinde offen.

Der Bericht ist erschienen in „Württembergische Blätter für Kirchenmusik“  Heft 1/2023